Entwicklungszusammenarbeit wohin?

Die schweizerische EZA ist im Wandel, der hier analysiert und kommentiert werden soll .

In der Pandemie verludert der schweizerische Föderalismus

Ein Kommentar

Es ist gelinde gesagt erstaunlich, wie kühl unsere politische Elite die dramatischen Todesraten der Pandemie akzeptiert. Stellen wir uns vor, täglich stürzt in der Schweiz eine voll besetzte Swiss Maschine ab und keiner schaut hin. »Das ist eine Sache der Güterabwägung, ich kann damit leben», sagt dazu unser Finanzminister. «Ich kenne viele Senioren, die lieber ihr Leben beenden als noch einmal in Isolation zu gehen», so die Fraktionschefin einer Partei irgendwo in der Mitte.

Die Pandemie ist für die Schweiz nicht ein Phänomen, das klare Kriterien zu befolgen hat. Sie ist eine Frage der Güterabwägung. Damit ist nicht mehr das Richtige und Notwendige, sondern das politisch Mögliche entscheidend. Unsere Pandemiebekämpfung in der zweiten Welle ist nicht mehr geleitet von Kriterien, wie die Seuche am effizientesten bekämpft werden kann, sondern von der Frage, wie können die politischen und wirtschaftlichen Interessen am besten ausgeglichen werden. Damit sind wir im politischen Alltag der Schweiz gelandet. Unser politisches System mit Föderalismus und direkter Demokratie ist ein wunderbares System des Interessenausgleichs. Es hat uns Stabilität und schliesslich auch Wohlstand gebracht. Ist es auch ein System, eine Pandemie zu bekämpfen?

In der ersten Welle hatten wir eine klare Führung des Bundesrates, der Föderalismus wurde zugunsten rascher und überzeugender Massnahmen zurückgedrängt. Natürlich sind dabei auch Fehler gemacht worden. Es gab aber eine klare Linie, und das Volk und die wirtschaftlichen Akteure haben sich an diese gehalten. Eben nach dem Motto, eine besondere Situation verlangt besondere Massnahmen.

Die zweite Welle hat uns zu einem globalen Champion der Pandemie gemacht: kaum jemand hat höhere Todesfallziffern und Infizierte pro 100’000 Einwohnern zu vermelden als die Schweiz. In der Mitte Europas sind wir wieder einmal eine Insel. Alle unsere Nachbarn haben konsequenter gehandelt, obwohl sie geringere Fallzahlen vermelden. Unsere Massnahmen sind sorgfältig austariert: Schon der Bundesrat entscheidet nicht aufgrund der Pandemielage, sondern auf gemäss den politische Mehrheitsverhältnissen. Jede Partei formuliert nun ihre Position nicht gemäss objektiven Notwendigkeiten, sondern lässt ihr politisches Glaubensbekenntnis spielen. Die Freisinnigen verlassen sich auf den «liberalen Kompass» der Bürger (NZZ) und singen das hohe Lied der Eigenverantwortung. Die SVP kritisiert die Massnahmen des Bundesrates, bis die übrigen Parteien dasselbe tun, nun verteidigt die Partei das vorsichtige Vorgehen das Bunderates. Die Sozialdemokraten profilieren sich in der Krise wie üblich als staatsgläubige Partei und punkten mit wirtschaftlichen Stützungsmassnahmen. Sie setzen sich damit in Gegensatz zu den neoliberalen Parteien am anderen politischen Pol. Besonders in Szene setzen können sich nun die Interessenvertreter. Der Gewerbeverband und Gastronomie Suisse aber auch Economie Suisse. Ihre Kritik ist einhellig: Der Bundesrat handelt widersprüchlich und natürlich berücksichtigt er die partikularen Interessen zu wenig.

Und wie reagiert der Bürger? Die grosse Mehrheit erwartet klare Entscheide. Das tatsächlich widersprüchliche Verhalten der Entscheidungsträger fördert aber auch ganz klar die Schlaumeierei. Zug erweist sich als mutig: es schliesst sämtliche Skianlagen, nur, wer geht schon nach Zug für den Skisport. Noch mutiger ist St.Gallen. Die Regierung schliesst tatsächlich ihre Anlagen und der Regierungsrat fordert seine Ski Fans auf, ja nicht ins Bündnerland zu fahren, genau, was diese jedoch tun werden. Den Vogel abgeschossen hat aber Zürich, in dem es freundeidgenössisch fordert, alle Skigebiete sollen geschlossen werden. Das heisst, wer Skifahren will, kann dies selbstverständlich in seinen beliebten Destinationen tun. Wer die Restaurantschliessung umgehen will, weicht in den Nachbarkanton aus und fürs Shoppen sind ja die kantonalen Grenzen offen. Unverständnis und Kopfschütteln über soviel Widersprüchlichkeit prägen nun die Haltung der Bürger.

Die Konsequenz ist Unsicherheit und abnehmendes Vertrauen in die Entscheidungsträger. Das ist Gift für die effiziente Bekämpfung der Pandemie. Es ist aber die logische Folge davon, dass das politische Spiel des Güterabwägens auf die Bekämpfung der Pandemie übertragen wird. Dabei entsteht immer viel Raum für partikulare Einflussnahme und Eigeninteressen. Die Moral und die Gesundheit kommen bestenfalls im zweiten oder dritten Rang. Vor lauter Interessenausgleich und Güterabwägung geht aber nicht nur Effizienz, sondern auch Glaubwürdigkeit verloren. Vergeblich versuchen wir nach Verantwortlichen mit Zivilcourage, die das Gesamtinteresse vor die Partei- und Partikularinteressen stellen. Da es wenig hilfreich, wenn «Economie Suisse» die Massnahmen des Bundesrates zwar unterstützt, aber gleichzeitig eine klare Langfriststrategie fordert. Der Bundesrat kann diese aber ebenso wenig liefern, wie die Regierung des Kantons Zürich oder der Gewerbeverband: Die unmittelbaren und widersprüchlichen Partikularinteressen verunmöglichen klare Entscheide.

Was bleibt ist Verunsicherung in der Bevölkerung, ineffiziente Bekämpfung der Pandemie und ein Überwiegen der unmittelbaren materiellen Interessen. 

Jeden Tag verlieren wir eine volle Swiss Maschine voller Passagiere und keiner schaut hin. Es ist eine Frage der Zeit, bis die Politiker die Frage beantworten müssen, weshalb sie die vielen Bürger vorzeitig haben sterben lassen. Die Antwort kann nicht sein, die Senioren wären ja sowieso in einigen Jahren gestorben, sondern: Sie sind gestorben, weil wir nicht konsequent gehandelt und unsere Eigeninteressen vorangestellt haben. Sie sind gestorben, weil unsere Entscheidungsträger es so gewollt haben.

Autor: buergerschild

Nach ReliefArbeit in Nigeria (1968) und Bangladesch (1971) mit dem Roten Kreuz, Teamleiter und Koordinator des EZA Programms der Schweiz in Nepal (1973-1978), erster Koordinator für Rwanda und Burundi mit Sitz in Kigali. Auslandleiter Helvetas, Projektleitung ländliche Entwicklung in Bolivien. Direktor INTERCOOPERATION (1988 bis1999). Chief Technical Advisor von UNDP und Strategieberater der DEZA in Nordkorea. Leiter des National Solidarity Programms - NSP (2004-2007) in Afghanistan und Generaldirektor ICIMOD (2007-2011).

Ein Kommentar zu “In der Pandemie verludert der schweizerische Föderalismus

  1. Danke für die klare Position!

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